Unser Bewusstsein ist darauf ausgerichtet, die Gegenwart fassbar zu machen. Darin unterscheiden wir uns Menschen entscheidend von allen anderen hohen Tieren. Wenn ich sage „Ich lebe hier und jetzt!“, so ist das mehr oder minder eine Selbstlüge. Und unser Bewusstsein ist durchaus ein Findiger, um uns irrezuführen, damit wir uns selbst belügen. Wenn ich weiterhin sage „Ich sehe jetzt ein hellblaues Auto auf der Straße!“ oder „Ich höre gerade Kinder schreien!“, so bleibt zu vermerken, dass die beiden sowie alle anderen verwandten Jetzt-Sätze eigentlich von der Vergangenheit handeln. Bevor das Ereignis als solches in unser Bewusstsein vordringt, ist es bereits Vergangenheit. Es ist zwar keine Vergangenheit von Stunden, sondern es geht eher um Millisekunden, die aber durchaus reichen, damit die zum Bewusstsein gewordene Wahrnehmung bereits Vergangenheit ist.
Unser Bewusstsein kann nicht das Hier und Jetzt dingfest machen, denn seine Wahrnehmungsgrundlage ist ganz und gar Vergangenheit. Unser Bewusstsein gleicht dieses Defizit der stetigen Zeitverzögerung dadurch aus, dass es sehr erfinderisch in der Gestaltung ist. Die Ausrichtung, die vorhandene Wahrnehmung durch Erkenntnis, Vorstellung, Gedanken etc. abzubilden, geht nicht auf eine höhere physische Begabung des Menschen im Verhältnis zu anderen höheren Tieren zurück, sondern ist durch sein verändertes Zeitempfinden bedingt. Der Mensch ist das einzige Wesen mit einer klaren Zeitperspektive, die von der Vergangenheit in die Zukunft reicht. Alle anderen höheren Tiere verharren weiterhin in der Vergangenheit und lassen sich quasi treiben von ihren unmittelbaren Wahrnehmungen und Empfindungen. Sie sind darin wirkliche Spezialisten, und zwar jede Spezies auf ihre Art und Weise. Ein Igel z.B. rollt sich bei Gefahr sofort ein. Das ist seine Reaktion, seine Art wahrzunehmen und zu empfinden und er wird sich wohl niemals davon befreien, obwohl es ihn gegebenenfalls den Tod bring. Anders der Mensch. Er gestaltet, bevor er reagiert. Bei Gefahr ist er zwar versucht direkt zu reagieren, aber die Schlausten, die gehen über den reinen Instinkt hinaus und denken sich Optionen aus, je überraschender und ungewöhnlicher diese Optionen sind, je erfinderischer die Vorstellungskraft ist, umso besser windet sich der Mensch aus der Gefahr heraus oder lässt sich erst gar nicht so weit von der Gefahr ins Abseits drängen.
Unser Bewusstsein ist ein Ort der Abbildungen, Vorstellungen, Gedanken und Perspektiven und sie alle sind von der Zeit unabhängig. Ohne unser Abbildungs- und Vorstellungsvermögen bliebe der Mensch weiterhin ein höheres Tier. Durch seine Gedanken ist er zwar weiterhin physisch eingeschränkt an seine evolutionäre Umgebung gebunden, immerhin weiß er aber dadurch um seine Perspektiven. Perspektiven zu haben bedeutet vor allem eines, seine Vergangenheit zu Gunsten der Zukunft zu verändern, was nur der Mensch so unmittelbar gewollt vermag.
Es ist falsch, die Intelligenz des Menschen allein an der Logik zu messen. Die Intelligenz muss an den Perspektiven gemessen werden, die sich der Mensch fähig ist zu geben. Perspektivloses Leben ist ein eindeutiges Zeichen mangelnder Intelligenz.
Unser Bewusstsein kann nicht hier und jetzt dingfest gemacht werden. Wenn wir nach dem Wohnort unseres Bewusstseins fragen, so lässt uns unser Bewusstsein zunächst völlig ratlos zurück, stattdessen werden wir mit einer Unmenge an Abbildungen, Vorstellungen und Gedanken bedient. Wie kommt es dazu? Materiell fassbar ist nur die Vergangenheit, die Gegenwart dagegen nicht, denn auch das, was angeblich gerade in diesem Moment geschehen sollte, kommt zur Vorstellung erst mit einer gewissen Zeitverzögerung, ist also schon Vergangenheit. Diese Zeitverzögerung ist aber so kurz und nah, dass wir uns deren zunächst kaum bewusst sind. Erst durch gründliche Überlegung finden wir heraus, dass der eigentliche Wohnort unseres Bewusstseins im Verhältnis zur dingfesten Materie stets in der Zukunft liegt.
Unser Bewusstsein ist der Materialisierung zeitlich voraus.
Die Gegenwart ist kein Zeitpunkt, sie ist ein Zustand. Im Bewusstsein fällt das physische Individuum samt seiner ereignisvollen Vergangenheit mit der von der Zeit unabhängigen Vorstellungs- und Gedankenwelt zusammen. Ereignisvolle Vergänglichkeit trifft und verschmilzt mit der ereignislosen Unvergänglichkeit. Das ist unser Zustand. Ein Zustand kommt aber selten allein. Gemeinhin bezeichnet man diese Zustände gerne als Qualia. Und unsere Sprache gleich welcher Form ist ein Vehikel, um unsere Zustände an Tag zu bringen, sie nachfühlbar, vorstellbar, offensichtlich und verständlich zu machen. Die Sprache ist der Schlüssel, der das Tor zu unseren Zuständen aufschließt. Durch die Sprache werden wir uns unserer Zustände erst richtig bewusst. Diese Zustände füllen unsere Gegenwart aus bzw. werden als unsere Gegenwart zusammengefasst.
Unser Bewusstsein ist nicht systematisch, nicht einmal wenn wir logisch denken. Es gilt nicht so sehr systematisch zu denken, als vielmehr die Begriffe in ihrer zugewiesenen Bedeutung richtig zu gebrauchen. Da stellt man allerdings schnell fest, dass es uns leidlich an Begriffen mangelt und wie infolgedessen beschränkt unser Bewusstsein ist. Diese Beschränktheit ist wiederum kein Nachteil, wie man zunächst glauben könnte. Die Beschränktheit sorgt immerhin dafür, dass wir Menschen unser Bewusstsein trotzdem als recht homogen und gleichförmig auffassen und erleben. Es kann nicht sein, dass jeder seinen eigenen Begriff von einfachen Gegenständen wie Tisch oder Stuhl oder gar komplexeren Formen wie Lebewesen hat. Ohne diese Beschränktheit des Bewusstseins wäre folglich keine Verständigung zwischen den Menschen möglich.
Die Zeit ist ein Rätsel, das einer Auflösung bedarf.
Zeit und Bewusstsein
Vergangenheit: Materie
Gegenwart: Abbildungen, Vorstellungen, Gedanken
Zukunft: Existenz